Mathilde

Mathilde

Fragmente eines Lebens

1890 -1982

Tage bei Mathilde

Sie wohnte noch im alten Holzhaus, hauste war wohl der zutreffernde Ausdruck, – denn inmitten ihrer, wie Relikte gehüteten Erinnerungstücke, konnte nur sie leben, in ihrer Art. Ich hatte sie lange nicht gesehen. Tante Mathilde, vor ihrer Zeit in Amerika mochte man sie Tilde genannt haben, wurde zweiundneunzig Jahre alt. Mein Quartier bei der Geischler Sophie, eine ihrer alten Freundinnen, weiter oben am Berg, war sicher schon bereit. Nach dem Erhalt meines Briefes war die Tante prompt zu ihr geeilt, um zu berichten, daß das Madele, – wie sie mich noch immer nannte, wieder einmal, was selten genug vorkam, zu Besuch käme. Mit listigem Augenzwinkern würde sie hinzugefügt haben, daß es allerhand zu erzählen gäbe. Die Sophie würde genickt haben, bedächtig, da sie schlecht hört und den Redeschwall der Tante ohnehin nie unterbrechen konnte. Es war ruhig hier, fast als würde das Leben der Tante die Natur zur Mäßigung und zur Bescheidung anhalten. Bei Sophie würden sich nach einigen Tagen meine Sinne auftun, bei den Streifzügen durch die Wälder die Stille aufsaugen und mich fremd werden lassen in den Weiten der Wiesen. Der Zaun des Bauern reichte bis an den Wegrand. An manchen Stellen war das Holz morsch und auch schon ausgebrochen. Es war niemand mehr auf diesem Hof, der den Zaun ausbessern würde, – es war auch nicht mehr notwendig, nicht mehr. Der alte Bauer war allein und der Stall schon lange leer. Einige Hühner schienen noch das Leben mit dem Bauer zu teilen. Das morgendliche Gackern und Krähen eines Hahnes drang bis zu Mathildes Haus. Für sie das Zeichen, ihr Bett zu verlassen. Auf der anderen Seite des Tales lebte eine Gruppe junger Leute, die im Sommer hier beim Bauern mähten. Die jungen Leut›, so berichtete die Tante einige Tage später, seien wie dahergelaufene Zigeuner gekommen und hätten drüben beim Moar seinem Hof angefangen zu wirtschaften. Sie seien nicht z’wider, wenn man mit ihnen redet, und gefragt hatten sie allerlei. Der Sophie ihr Bruder sei drüben gewesen, am Moarhof. Sauber sei’s gewesen, hätt er gesagt. Ich mußte lachen. Der Sophie ihr Bruder, ein Lackl von einem Mann mit zwei verkehrten Händen. Auch er war einmal ein Verehrer, – vielleicht noch immer. Er mag fünfzehn oder auch zwanzig Jahre älter sein als ich, schwer einzuschätzen. Er hatte einige Zeit unter Tag im Bleibergwerk und später als Holzfäller gearbeitet. Jetzt sah ich das Holzhäusl mit seinem verzierten Giebel, den darunter geschützt liegenden Balkon, schmal und wetterfest. Ich parkte und ging das letzte Stück des Weges zu Fuß. Der Steig führte am Zaun entlang. Die ungestrichenen Holzlatten waren noch heller geworden mit einem leichten Grauschleier. Eine Baumwurzel bildete eine Stufe. Ich blieb stehen. In den abgeernteten Beeten wucherte Unkraut. Die Sonnenblumen neigten ihre Blüten und in den Holzkästen vor den Fenstern wuchsen Fuchsien. Das Kräuterbeet in der dritten Reihe war sauber gejätet. Diese Arbeit mußte ihr Schmerzen bereitet haben. Obwohl sie es nie zugab, wußte ich um ihre Rückenschmerzen. Zwei Kastenfenster mit Holzsprossen lagen im Erdgeschoß unter dem Balkon. Die Außenfenster waren ausgehängt. Dunst lag über dem Hang, ein kühler Windzug streifte mein Gesicht und ich fühlte meine Müdigkeit.

«Madele, bist’s du?», hörte ich ihre Stimme. Sie hatte einen Fensterflügel geöffnet. Als ich zu ihr hochsah war sie schon wieder verschwunden. «Ja», rief ich noch, da kam sie schon um die Ecke. Sie trug ihren alten Schürzenkittel, den sie kaum ablegte, da er noch von ihrem Schwager gemacht worden war. Der, wie sie immer betonte, an einem eingeklemmten Bruch gestorben war. Das hatte sich beim Kirschenbrocken zugetragen. Gott hab› ihn selig, so ihr Nachsatz. Über ihrer Kittelschürze trug sie heute eine neue Schürze mit Karomuster. «Was schaust», fragte sie und hob mit beiden Händen ihre Schürze an, «die ist neu und ich kann sie feucht abwischen. Madele, komm› her!» Sie hielt mich einige Zeit mit ihren Armen umschlungen und drückte mich an ihren mageren Körper. «Ich weiß nit wo sie is», flüsterte sie dann. «Sie hat schon lange nichts mehr von sich hör’n loss’n. Niemand -«. Sie brach ab, sah mich an, wandte sich zur Seite um dann voraus ins Haus zu gehen. Die kurze Holztreppe knarrte, als sei sie nicht gewohnt zweier Menschen Last zu tragen. Im Vorraum roch es nach Sauerkraut, das in einem Faß unter der steilen Stiege stand, die unter das Dach führte. Der Geruch des Aborts, der als kleiner Erker an der Ostseite des Hauses lag, vermischte sich mit dem Duft aus der Küche nach frischem Brot. «Ich weiß ja was du magst», meinte sie und zog mich weiter. Das Brot war noch warm. Sie drückte mich zur hölzernen Eckbank mit den bunten Kissen, von denen jedes seine eigene Geschichte erzählen konnte. Die meisten dieser Geschichten kannte ich. «Willst an Sterz, von heut», fragte sie mich und stellte die schwarze Rein auf den Tisch. Eine Art von Kasserolle, deren schwarze Stellen wie Bombentrichter das helle Email übersäten. «Ich mach› uns noch Kaffee», fuhr sie fort und stellte ihre elektrische Kochplatte an. Eine Errungenschaft, die sie noch nicht viele Jahre besaß. Lange hatte sie hier ohne Stromanschluß gelebt, später aber hatte sie sich nie für einen Elektroherd entschließen können, lediglich die Kochplatte gestand sie sich zu. Mit einem Holzfeuer sei besser zu kochen, davon war sie überzeugt. Sie holte die kleinen Tassen aus der Vitrine, die zwischen Kredenz und Nähmaschine stand. «Daraus müßten wir eigentlich Tee trinken», sagte sie und dabei drehte sie die edlen Tassen in den Händen, um sie von allen Seiten zu betrachten. Die feine Zeichnung schien vom gelblichen Porzellan auf ihre sensiblen Handrücken weiter zulaufen. Sie goß nun statt des Kaffees eine ihre Kräuter-teemischungen in einer Kanne mit kochendem Wasser auf. «Setz› dich», sagte ich zu ihr und löste sie aus ihrer Gedankenwelt. «Ich habe geträumt», erzählte sie und ihre Augen kehrten zurück zu mir. «Bist wiedergekommen dieses Jahr, ich freu› mich. Die Anderen schreiben halt zum Geburtstag, du kommst. Manchmal ist man halt allein, daß einem die Einsamkeit schier erdrücken könnt. Ich schau› dann zum Fenster raus und denk› an das Vergangene, oder ich geh› auf’n Berg und such› Kräuter». Der Tee hatte nun lang genug gezogen und als sie ihn eingoß dampfte er heiß und aromatisch. «Du gehst noch immer?», fragte ich erstaunt. «Mach’keine groß’n Augen. Ich bin zäh», rief sie aus. Ihre melancholische Stimmung schien verschwunden zu sein. Sie lachte und ihre obere Zahnprothese rutschte nach unten, aber sie lachte weiter. Es störte sie nicht. Das Tischtuch zierten mehrere Flecken und Krümel lagen verstreut. Sie leckte ihren Zeigefinger ab und tupfte Zucker auf, den sie verstreut hatte. «Die Großmutter hat uns immer Würfelzucker gegeben», merkte sie an, «zu besonderen Anläßen hat es Seidenzuckerln gegeben, so kleine Polsterln. Wenn der Kaiser Geburtstag feierte war das, – unter der Woche aber Würfelzucker. Dabei soll er gar nicht gut sein für die Zähne, so schreiben’s halt, ich hab’s mir aufgehob’n». Sie setzte ihre schmal gefaßte Brille auf. Das fleckige, rote Etui legte sie auf den Abschluß der Holztäfelung unter das Bild eines strammen Soldaten in K.u.K. Uniform. Mein Blick blieb wohl zu lange an dem schnurrbärtigen Mann hängen. «Fesch sind’s gewesen, unsere Käiserjäger. Er ist g’fall’n , aber erst im Zweiten», erklärte sie und schob sich die Brille an die Nasenwurzel, um sie dort mit dem Finger festzuhalten. «Ich kann’s nicht finden», stellte sie fest.

Die Tante mit Bill in Kalifornien

«Ein trockener Sommer, – hast noch Hunger? «, ohne auf meine Antwort zu warten öffnete sie das Fenster. Ich schüttelte den Kopf. Aus dem Wasserschiff des Herdes, an dem sich Schichten aus Kalk in vielen Jahren abgesetzt hatten, schöpfte sie Wasser, um es in eine ausgebeulte Blechschüssel zu leeren. Darin wusch sie die Tassen und trocknete sie vorsichtig ab. Ich zählte insgesamt vier und einen Teller vom einstigen Service. Die dazugehörige Zuckerdose stand griffbereit am Tisch. «Du kannst dir nicht vorstellen wie schwierig es war das Teegeschirr nach Kalifornien zu bringen, und als Bill gestorben war, wieder hierher zurück», dabei räumte sie ihren restlichen Schatz wieder zurück in die Vitrine. Diese war massiv aus dunklen Holz gefertigt und beherbergte allerlei filigrane Dinge. Die Böden waren aus grünlichem Glas. Am Schlüssel hing eine Seidenkordel und ein silberfarbenes Glöckchen, das leise klingelte wenn die Türe bewegt wurde. Die Tante nahm aus einem der unteren Fächer eine Fotographie, die meine Mutter in jungen Jahren zeigte. Ich kannte das Bild. Immer wenn ich hierherkam nahm sie es in die Hand, um von ihrer Schwester zu erzählen. Die unglückliche Liebe, die sie mit jenem Mann verband, der hinter ihr stand. Beide vor einem auslaufenden Schiff, irgendwo. Es gab damals so viele Schiffe, die ausliefen und auf Fotos festgehalten wurden. Ich wähnte mich hinter Glasscheiben, die mich zurückhielten, kaum das ich sehen konnte was dahinter geschah. Tante Mathilde fabulierte. Ich konnte ihr stundenlang zuhören und doch auch meinen Gedanken nachhängen. Die Sonne war untergegangen. Ich beugte mich vor, um in den Garten zu sehen. Sie sinnierte noch, das Foto in der Hand, stellte eine Ähnlichkeit mit mir fest. An der Rückseite des Bildes klebten schwarze Fotokartonreste, wie sie früher in Fotoalben Verwendung fanden. «Ich geh› zur Sophie, damit sie Bescheid weiß», sagte sie unvermittelt und legte ihre Brille wieder zurück in das Etui. «Du kannst dich hier waschen, weißt ja.» Sie ließ mich allein. Ich saß noch eine Weile, nach vorne gebeugt hielt ich das Foto in meiner Hand und sah in das Gesicht einer Toten. Sie war tot für mich. Zuletzt hielt nur Mathilde den Kontakt aufrecht, doch auch diese Brücke war irgendwann abgebrochen. Ich wollte sie tot wissen. Ohne diese Hoffnung, die nur Warten ist auf ein Zeichen und ein Nicht-Vergessen-können oder-dürfen. Die Erinnerung auslöschen, hat sie es gekonnt? Ich will sie tot wissen, nicht mehr ertragen sondern wegwischen. Meine seelischen Tiefen, von denen meine Tante nie etwas erfahren hatte, ich konnte nicht darüber reden. Sie hatten meiner Mutter die Tür gewiesen und sie ging. Das arme Kind, hieß es. Das arme Kind war ich. Kühle Luft breitete sich aus. Vom Abort aus waren die leuchtenden Wiesen in der Abendsonne zu sehen, zu schön für einen solchen Ort. Statt Klopapier gab es hier zugeschnittenes Papier, wiederverwendetes Altpapier sozusagen.

Ich gehe vor das Haus, um mich am Brunnen zu waschen. Der Trog war vor einigen Jahren erneuert worden, trotzdem nehme ich einen Eimer, den ich im Schuppen finde. Ich pumpe Wasser. Es ist kalt. Meine Uhr lege ich an den Rand des Troges. Das Glas beschlägt, obwohl die Uhr wasserdicht sein sollte. Meine Waschung ist sehr beschränkt.

Tante Mathilde atmete schnell, als sie zurückkam. Sie hatte sich beeilt. «Ein Hirn wie ein Spatz», sagte sie und brachte mir mein vergessenes Handtuch. «Morgen bekommen wir schönes Wetter, – bist bald fertig?», fordernd ergriff sie den Pumpenschwengel und drückte mich unter den stoßweise ankommenden Wasserstrahl. Das kalte Wasser rann über meinen Rücken und suchte sich beidseits des Halses einen Weg. «Wirst auch schon krumm», stellte sie fest. Endlich war diese Prozedur überstanden und sonderbarerweise fühlte ich mich gut. Am Horizont war noch ein heller Streifen zu sehen. Wir gingen in’s Haus. Meine Filzpantoffel standen bereit. Ich trug sie immer wenn ich zu Besuch war. Auf einem Stuhl lag ein Stoß Zeitschriften. Offensichtlich hatte sie die Lektüre von Sophie mitgebracht. «Macht’s dir was aus, wenn ich da reinschau?», fragte sie und öffnete eines der Hefte. «Was gibt’s Neues», fragte ich zurück, nur um etwas zu sagen. «Weiß nicht», kam gemurmelt von ihr. Sie setzte sich ihre Brille auf die Nase. Während sie blätterte bemerkte ich ihre trotzige Miene. Um ihre Lippen zogen sich viele kleine Falten zusammen und warfen sich zu einer Knospe auf. Ihre Barthaare kamen nahe aneinander zu stehen und wirkten noch dunkler als sonst. Ich machte mich auf zu meinem Nachtlager bei der Geischler Sophie. Kaum von der Tante bemerkt machte ich die Haustüre zu und ging. Die Sophie wird die alte Leinenbettwäsche aus dem Schrank genommen haben, um mein Bett zu beziehen. Das schwere Bauernleinen mit den alten Spitzen stammte noch von ihrer Aussteuer. Sie vermeinte immer mißbilligend, daß ich diese Vorzugsbehandlung doch nicht zu schätzen wüßte; – was aber nicht stimmte. Das Haus der Geischler Sophie war größer als das von Mathilde und auch die Einrichtung fortschrittlicher mit Elektroherd, Badezimmer und Klopapier auf der Rolle.