Von Deetz in den Westen
Wieder einmal war die Versetzung in eine andere Kirchengemeinde Grund für einen Wohnortwechsel, diesmal nach Deetz, dörflich geprägt, nahe der Stadt Zerbst . Im Winter 1950 erreichte die Familie sozusagen mit «Kindern und Kegel» das zugewiesene Pfarrhaus im neuen Wirkungsbereich des Vaters. Die beiden Brüder, Hartmann und Albrecht, setzten ihre schulischen Anfangserfahrungen in den Ausweichklassenräumen im Feuerwehrhaus fort. Die ältere Schwester wurde bereits im Schulgebäude unterrrichtet, während die jüngere noch nicht eingeschult worden war.
©Albrechts Erinnerungen
Das Pfarrhaus lag in der Straße «Kurzes Ende Nr. 6», wobei ich bemerken möchte, daß Deetz eigentlich nur aus drei Straßen bestand. Ansonsten gab es im Dorf eine Kirche, Bahnhof, zwei Gasthäuser und einen Laden und sowas wie eine Eisdiele. Das Pfarrhaus hatte eine lange Straßenfront, die von den Bewohnern, also von uns, sauber gehalten werden mußte. Dies wurde sehr bald die Aufgabe von uns Kindern: kehren bis zur Straßenmitte, die andere Hälfte mußten die gegenüberliegenden Nachbarn machen. Die Kastanienbäume auf unserer Seite machten im Herbst besonders viel Arbeit. Auch durch die Pferde der Bauern, die durch die Straße geführt wurden, gab es einiges zu tun; entweder die «Pferdeäpfel» entsorgen oder einsammeln zwecks Düngung im Garten. Am Haus gab es einen Hof mit Schuppen und Stall, sowie eine Mauer, die den großen Garten abtrennte. Im Stallgebäude befand sich unsere Toilette, sprich Plumpsklo; der Weg dorthin erforderte besonders nachts und bei Kälte Überwindung und Mut. Der dunkle Garten hinter der Mauer wirkte bedrohlich, so das wir Kinder ungern alleine diesen Ort aufsuchen wollten. So verhandelten wir stets und es fand sich in der Regel, unter uns vier Geschwistern, jemand als Begleitschutz mit Taschenlampe.
1952 und 1953 waren zu uns Vieren zwei Brüder hinzugekommen; damit war der Haushalt komplett, aus acht Personen und unserer neuen Haushälterin Emma. Sie wurde von uns Kindern ein wenig gefürchtet, einmal wegen ihres Aussehens, – sie hatte mehrere behaarte Warzen im Gesicht, und auch wegen ihrer Art…
Im Garten gab es Platz für Gemüse, Blumen und Wiese. Darüber hinaus wurde ein Stück Ackerland von Vater beplanzt, im Wechsel Mais, Tabak, Mohn, Kartoffeln, alles was auch bei Verkauf Geld einbrachte. Wir größeren Kinder wurden zur Ernte und weiteren Verarbeitung eingesetzt. Mohnkapseln öffnen, Tabakblätter oder auch Apfelscheiben auf dünnen Schnürren aufziehen, wo sie auf dem Dachboden zum Trocknen aufgehängt wurden.
Im September 1950 begann die Schule. Auch Kinder aus den umliegenden Orten kamen hier in Deetz in die Zentralschule, bei jedem Wetter zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Schreiben lernte ich mit einer Schiefertafel, an der ein Lappen oder auch Schwamm befestigt war, damit man das Geschriebene wieder entfernen konnte. Anfangs war der Unterricht für mich nicht sehr interessant, erst als Fächer wie Naturkunde, Sport, Russisch und Erdkunde dazu kamen, ging ich gerne in die Schule. Das Lernen fiel mir leicht. Eine «2» in einer schriftlichen Arbeit wurde zuhause mit einem Stirnrunzeln quittiert. Leistung war ein wichtiges Wertekriterium für die Eltern, vor allem für Mutter.
In jedem Jahr fand auch eine Klassenfahrt statt. An die Reihenfolge in den einzelnen Jahren erinnere ich mich nicht mehr, aber die Ziele sind noch präsent. Eine der Fahrten ging nach Wernigerode am Harz, eine schöne alte Stadt mit Schloss. Den Brocken, den höchsten Berg im Harz, konten wir nicht besteigen. Auf dem Gipfel hatten «die Russen» ihre Horchposten gen Westen gerichtet und das Gebiet war daher militärisches Sperrgebiet. Wir wanderten zum Hexentanzplatz und zur Rosstrappe, so meine Erinnerungen. Andere Fahrten führten zu den Tropfsteinhöhlen im Südharz, auch nach Thüringen ging eine Reise. Das Kyffhäuser-Denkmal auf dem gleichnamigen Berg war das Ziel. Der frühere Kaiser «Rotbart» Barbarossa soll dort noch leben, eine Legende. Auch in den Spreewald mit seinen verzweigten Kanälen und Wasserarmen führte eine Klassenfahrt. Aufgrund guter schulischer Leistungen bekam ich, als Auszeichnung, zusammen mit meinen Klassenkameraden Ewald einen Aufenthalt im Thüringer Wald; 14 Tage sollten wir in Stützerbach die dortige Schule besuchen. Es war Winter und ich hatte noch nie so viel Schnee gesehen und war mehr als erstaunt über Ordnung und Verhalten in der Schule. Eines Morgens hatten die Schüler keine Lust auf Unterrricht und verbarrikadierten die Klassentüre. Ob ich in der Zeit auch etwas gelernt habe, weiß ich nicht.
Auch in Deetz gab es Winter mit viel Schnee und großer Kälte. Manchmal fehlte Heizmaterial in der Schule und dann bekamen wir kältefrei; «Kohleferien». In unserer Klasse waren ungefähr gleich viel Mädchen wie Jungs. Die meisten kamen aus Bauernhöfen, Handwerksfamilien oder Aussiedlerfamilien. Ich schwärmte für eine Carmen, eine Mitschülerin, die ich aber nur in der Schule sehen konnte. In späteren Jahren suchte ich nach ihr, fand sie auch, aber es blieb dann bei diesem einmaligen Kontakt. Doch das Leben in Deetz bestand natürlich nicht nur aus Schule, wichtiger war die Zeit danach.
Ich war auch eine Leseratte und im Dachboden des Pfarrhauses standen Schränke mit alten Büchern, wo interessanter Lesestoff zu finden war. Besonders historische Darstellungen nahmen mich gefangen, Napoleonische Kriege zum Beispiel. Mutter mußte mich auch manchmal an die frische Luft jagen, so versunken war ich in so manches Buch. An der «frischen Luft» tobte ich mich jedoch sportlich aus. Eine große Diele im Haus war zuweilen Spielplatz, Arena für Tischtenniskämpfe oder «Bauplatz» für Häuser und Burgen. Der Garten ließ für uns Kinder keine Wünsche offen. Der Deetzer Teich und die Nuthe waren sommers wie winters natürlich Abenteuerspielplätze, die hinter dem Gartenzaun lagen. Als eine LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) mit Stallungen hinter dem maroden Zaun errichtet wurde, trotteten manchmal Rinder, Schweine und Ziegen durch unseren Garten. Mit Pfeil und Bogen vertrieben wir diese Tiere, die Hühner aber nahmen wir gefangen und ließen sie erst wieder frei, wenn sie als Lösegeld ein Ei gelgt hatten. Auch wir hielten neben Geflügel auch Kaninchen, manchmal standen auch ein Schwein oder eine Ziege im Stall oder auf der Weide. Füttern und Ausmisten waren unsere «Pflichten», das war selbstverständlich. Auch sonntags wenn Vater Gottesdienst hielt, waren Hartmann und ich für das Funktionieren der Orgel zuständig. (Foto: Deetzer Kirche um 1950) Durch das Heruntertreten des Balkens gelangte Luft in den Blasebalg, der die Luft für die Orgelpfeifen lieferte. Zu unserem Glück wurde im Gottesdienst nicht immer auf der Orgel gespielt. Ich glaube, auch unsere ältere Schwester, die schon auf der Orgel spielen konnte, war darüber froh.
Trotz unserer vielen Aufgaben in Haus, Hof und Garten erlebten wir Kinder schöne Zeiten, besonders im Sommer. Der Deetzer Teich lockte und wir lernten von einander das Schwimmen. Auf Streifzügen durch Wald und Feld fanden wir mitunter Blindgänger aus dem Krieg oder auch amerikanische Flugblätter in russischer Schrift, was wir sehr interessant fanden. Mit einem zu großem Herrenfahrrad lernte ich fahren. Später, mit einem Damenfahrrad, unternahm ich Touren in die Nachbardörfer. Unterwegs fand sich «Proviant» am Straßenrand, denn Obstbäume säumten die Wege. Im Herbst, Zeit der Ernte, wurde für uns Kinder wieder das Arbeitspensum erhöht. Einmal fuhr die gesamte Familie mit dem Zug in den Fläming, um Pilze zu sammeln. Ich erinnere mich auch an andere Eisenbahnfahrten vom Deetzer Bahnhof aus mit hölzernen Waggons und fürchterlich qualmenden Lokomotiven. Oft konnte man nicht aus dem Fenster sehen. Klassenweise wurden wir Schüler auf den Äckern eingesetzt, da «durften» wir Unkraut jäten, Rüben verziehen, Kartoffeln auflesen, helfen bei der Heuernte und auch Kartoffelkäfer einsammeln, – für letzteres bekamen wir sogar Geld. Für einen Käfer gab es 0,5 Pfennig und für eine Larve 0,25 Pfennig. Zur «Hochzeit» der Kartoffelernte gab es ein oder zwei Tage Kartoffelferien, um richtig mithelfen zu können. Im Winter zogen wir mit Schlittschuhen über den zugefrorenen Deetzer Teich. Die «Schlittschuhe» bestanden aus einer Metallplatte mit Halterung und Kufen. Sie wurden auf die normalen Schuhe festgegeschraubt und ruinierten die Schuhesohlen. Wir mußten oft wechseln, da wir nur ein Paar dieser «Schlittschuhe» hatten und jedes Kind einmal an die Reihe kommen wollte. An manchen Stellen war das Eis des Teiches so durchsichtig, dass wir die Fische darunter beobachten konnten.
Im Winter kam es mitunter zu Stromsperren und es mangelte auch oft an Heizmaterial.
Petroleumlampe
Im Dorfladen wurde anfangs noch mit Lebensmittelmarken bezahlt. Apropos Geld: das war immer knapp. Auf einen Jahrmarkt im Dorf mit Kettenkarussell wären wir zu gerne gegangen, doch wir bekamen dafür kein Geld und der Ertrag der «Kartoffelkäfersammlung» war schon ausgegeben. Ein fahrendes Kino kam einmal im Monat nach Deetz. Weil wir beim Aufbau mithalfen, durften wir auch eine Vorstellung besuchen. Mein erster Spelfilm, den ich sah, hieß «Alarm im Zirkus» und war aus russischer Produktion. Im Frühjahr fanden Reiterspiele auf dem Sportplatz statt. Gelegentlich kamen Scherenschleifer und sogenannte fahrende «Sägen» in den Ort, die oft schon von Kundschaft erwartet wurden.
In jedem Herbst wurde der Teich abgelassen und die darin befindlichen Fische gefangen; abgefischt.. Das war immer ein Ereignis, ein Volksfest, für die dann zahlreichen Besucher. Wenn im letzten Teil des Sees, direkt vor dem Abfluss, die Fischer in ihren hüfthohen Steifeln und den großen Keschern inmitten zahloser Karpfen, Schleie und Aalen standen wurden sie interessiert beobachtet. Das Wasser schien zu «kochen» bis auch die letzten Fische in großen Bottichen verschwanden. Die Schleie wurden in kleinen Becken voll Wasser zwischengelagert. Als einmal Bewacher und die örtliche Polizei eine Pause machten, zweigten mein Bruder und ich einige Fische ab; eine Tasche voll…
Das Jahr 1953 war mir im Gedächtnis geblieben. Am 17. Juni fand der «Volksaufstand in der DDR» seinen Höhepunkt. Im Deetzer Parteibüro der SED wurden nach der Erstürmung Akten aus dem Fenster geworfen und angezündet. Viele aus dem Dorf, auch ich, schauten zu und wunderten sich.
In der nahe gelegenen Stadt Zerbst befand sich neben einer großen Kaserne auch ein Militärflugplatz. Kontakt gab es kaum, denn die einfachen Soldaten bekamen fast nie Ausgang. Im Sommer kamen aber manchmal viele russische Militär-LKWs voll mit Soldaten an den See, um zu baden. Hin und wieder ertranken welche und wir Kinder beobachteten dann die Bergung der Wasserleichen. Auch die Herstellung von russischen «Machorkas» verfolgten wir aufmerksam. Dabei handelte es sich um selbst gedrehte «Zigaretten» aus Laub und Zeitungspapier… Im Herbst gab es große Manöver rund um Deetz. Lange Panzer und LKW-Kolonnen zogen durch Deetz. Wir standen dann am Straßenrand und winkten den Soldaten zu. Russische Militärpolizei sicherte die Straßenkreuzung im Ort, aber auf den Feldern wurde dann ohne Rücksicht alles das geübt, was auf dem Kasernenhof nicht möglich war.
Die Schulferien eröffneten uns Kindern unbeschwerte Tage, an denen wir auch immer wieder einmal gegen Verbote verstießen, die oft geahndet wurden. Körperliche Züchtigung mit dem Rohrstock war die Aufgabe des Vaters, während Mutter die «Stockschläge» sammelte und Vater berichten konnte. Dazu gab es noch fallweise Verlängerung von Verboten. Badeverbote im Sommer waren schwer erträglich. Mein Bruder und ich umgingen dieses und badeten nackt, wurden einmal allerdings von Mutter entdeckt… Auch an eine Reise mit Aufenthalt in Lubmin an der Ostseeküste und nach Bad Berka in Thüringen erinnere ich mich.
Bei Bad Berka besuchten wir Bekannte der Eltern, die einander in Afrika kennengelernt hatten. Der Ausflug in den Thüringer Wald zum Kickelhahn sollte für mich ganz abenteuerlich werden. Gemeinsam mit Arnfried, einem Sohn unserer Gastfamilie, blieb ich noch eine Nacht in der Hütte am Berg. (Foto: Arnfried links, rechts ich).Wir sollten am nächsten Tag mit dem Zug zurückkommen. Es war für uns eine spannende Nacht mit Siebenschläfern unter dem Dach, die Radau machten. Frühmorgens stapften wir in den nächsten Ort mit Bahnstation, lösten die richtigen Fahrkarten stiegen aber in den falschen Zug. Auf der Strecke nach Apolda machte uns der Schaffner darauf aufmerksam. In Arnstadt stiegen wir dann in den richtigen Zug um. J.W.Goethe dichtete Wanderers Nachtlied, «Über allen Wipfeln ist Ruh», – nach einem Aufenthalt auf dem Kickelhahn. (Dazu im Anhang 2 Youtube-Videos)
Die Großeltern wohnten in Dessau und die Besuche bei ihnen mochte ich nicht besonders gerne. Großvater war sehr streng. Als ich einmal allein über ein Wochenende dortsein «durfte» gab es mittags klebrigen Brei. «Du stehst erst vom Tisch auf, wenn du alles aufgegessen hast», lautete der Befehl des Großvaters. Doch kein «Mundvoll» wollte hinunter in den Magen rutschen. Aus dem Fenster konnte ich ihn nicht schütten, ich war verzweifelt. Immer wieder kontrollierte Großvater den Fortschritt der Nahrungsaufnahme, verließ aber immer wieder das Ess-Wohnzimmer. Schließlich trug ich den Brei löffelweise hinter einen großen Schrankfuß. Der Teller wurde so leer, ich erlöst und «belobigt». Als Jahre später die Wohnung der verstorbenen Großeltern aufgelöst wurde, wunderte man sich über den seltsamen, verschimmelten Haufen hinter dem Wohnzimmerschrank…
Die Tischsitten waren auch zuhause streng. Alles mußte aufgegessen werden, allerdings gab es nie so ekligen Brei wie bei Großvater in Dessau. Der Ellenbogen hatte auf dem Tisch nichts verloren, Gespräche mit vollem Mund waren verboten. Wir hatten frei zu sitzen, ohne mit dem Rücken an die Stuhllehne zu kommen. Es wurde gemeinsam begonnen, mit Gebet, und gemeinsam, oft auch mit Gebet, die Mahlzeit beendet. Selbständiges Aufstehen vor dem gemeinsamen Ende gab es nicht. Wenn sich die Eltern bei Tisch über ein Thema unterhielten, von dem wir nichts mitbekommen sollten, sprachen sie einen afrikanischen Dialekt, Suaheli; (dazu ein Link im Anhang).
Auch einige Besuche bei Verwandten blieben mir in Erinnerung. Mit Günther, einem von drei Söhnen eines Onkels, verstand ich mich besonders gut. Sie lebten in einer Villa mit Swimmingpool in Schkopau, bei Merseburg. Onkel Jochen hatte eine gute Stellung bei den Bunawerken und brachte es in dieser Position zu einem «Nationalpreisträger der DDR». Günther und ich machten uns einmal in die Stadt auf, um Zigarettenkippen auf den Straßen einzusammeln. Damit stopften wir eine Pfeife und rauchten, was zu Übelkeit und Erbrechen im Kohlenkeller führte. Auf einer Friedensfahrt durch Schkopau konnten wir die bekanntesten Radrennfahrer der DDR hautnah erleben. «Peterchens Mondfahrt» im Dessauer Theater war ein anderes prägendes Erlebnis aus jener Zeit und ebenso ein Besuch bei Mutters Schwester, Tante Suse. Sie wohnte an der Zonengrenze bei Hannover, in Weferlingen. Bei ihr gab es ein extra Buttermesser und ich lernte Orangen kennen, Apfelsinen genannt. Ich biß in die Schale und wunderte mich über den Geschmack. Tante Suse erklärte mir dann wie vorzugehen sei.
1957 im Frühjahr, ich war 13 Jahre alt, veränderte sich alles. Hartmann, mein älterer Bruder und ich sollten in den Westen geschickt werden, um dort auf das Gymnasium zu gehen. Gefragt, ob wir das wollten, wurden wir nicht. (Foto: Schule in Deetz 1950)
Hartmann sollte in den Westerwald, nach Herchen an die Sieg kommen, und ich nach Landau in die Pfalz. Sinn dieser Aktion, wie ich später erfuhr, war, daß wir im Westen Abitur machen sollten, was in der DDR für uns damals nicht möglich war. Landau – der Name hatten einen fremden geheimnisvollen Klang. Auf der Landkarte sah ich, daß dieser Ort weit, weit weg von Zuhause war. Ab September sollte ich dort das Gymnasium besuchen und im Schülerheim der evangelischen Kirche wohnen. Irgendwann im Sommer brachte mich Mutter nach Speyer in Rheinland-Pfalz zu einer befreundeteten Pfarrersfamilie, die mich später, bei Schulbeginn, nach Landau brachte.
Mein Bruder Hartmann wurde nach einem Schuljahr wieder von den Eltern in die DDR zurückgeholt, wo er eine Schlosserlehre absolvierte. Er war wohl mit der Situation im Westen nicht zurecht gekommen. Ich hatte mich aber, so gut wie es für mich möglich war, in die neuen Lebensumstände eingefunden. Der Einstieg in den Unterrricht, Quarta, dritte Klasse Gymnasium, machte mir kaum Probleme, obwohl ich nun statt Russisch Französisch und Latein lernen mußte und daher einiges aufzuholen hatte. Ich bekam Taschengeld von der Kirche und mußte um alles und jedes als Bittsteller vorsprechen. Das «Taschengeld» von DM 2,50 monatlich wurde jährlich um 50 Pfennig erhöht. Die Eltern konnten kein Geld aus der DDR schicken und die Pfälzische Landeskirche hatte sich verpflichtet die anfallenden Kosten zu übernehmen. Längere oder auch kürzere Ferien verbrachte ich oft bei der Familie meines Onkels Dieter in der Nähe von Koblenz. Dort hatte ich herzlichen Familienanschluß. In den Sommerferien war ich fallweise auch bei Mitschülern untergebracht. Nur einmal im Jahr durfte ich nach Hause fahren, meist zu Weihnachten. Diese Reisen standen nie unter einem guten Stern. Überfüllte Interzonenzüge und auch die Behandlung durch die DDR-Grenzschutzbeamten ängstigten mich, obwohl ich mir das nicht anmerken ließ. Die Ankunft zuhause war ebenfalls nicht immer sicher. Einmal verbrachte ich den Heiligen Abend auf zwei Stühlen im Weißenfelser Polizeirevier, weil am späten Abend kein Anschlußzug mehr fuhr. Ein anderes Mal mußte ich drei Kilometer auf den Bahngeleisen zu Fuß gehen. Mit offenen Zehen kam ich zuhause an, wo ich von Mutter verarztet wurde. In späteren Jahren, auch nach der Wiedervereinigung, verursachte das Passieren der Grenze ganz negative Empfindungen.