Von Deetz in den Westen

Von Deetz in den Westen

Innerdeutsche Grenzerfahrungen

Eines Tages, kurz vor den Herbstferien, wurde ich vom Heimleiter an’s Telefon gerufen. Mein Bruder Hartmann war am anderen Ende der Leitung. Ich wußte, daß er ein Jahr davor aus der DDR in den Westen geflohen war und zwar über die Zonengrenze; den Todesstreifen zwischen Thüringen und Bayern. Er arbeitete seither in Hamburg bei der Werft Blohm & Voss. Hartmann fragte mich, ob ich mit ihm die Herbstferien zusammen verbringen möchte. Ich sagte zu, überrascht und ohne weiteres Nachfragen. Er schickte mir Geld für die Fahrkarten, die ich besorgte. Am Sonntag den 14. Oktober 1962 machte ich mich auf nach Ludwigsstadt/Bayern.

Im Schülerheim

Hartmann wollte seine Freundin zu sich in den Westen holen, ebenfalls auf illegale Weise. Um eine geeignete Stelle an der Grenze für den Weg zurück in die DDR zu erkunden, waren wir in Ludwigsstadt nun für eine Woche in einem Gasthof einquartiert. Anfangs zu Fuß entlang von Grenzzäunen und Minengürtel, später mit Hilfe der Wirtstochter und im Auto waren wir auf der Suche nach der besten Route. Bereits bei seiner ersten Flucht in den Westen hatte mein Bruder dieses Grenzgebiet passiert. Diese erste Flucht dauerte mehrere Tage, weil er sich die meiste Zeit bäuchlings vorwärtsbewegen mußte, auf allen Vieren, und immer in der Angst auf Grenzposten zu treffen. Schließlich sei er so erschöpft gewesen, daß er die letzten Meter bis zum Grenzzaun und dann, fast wie in Trance, die Drähte durchschnitt. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit hatte ihn erfaßt; sollten ihn die Grenzposten entdecken, es war ihm egal… Er erreichte unentdeckt Ludwigsstadt und meldete sich bei den Behörden

Chronologie einer Woche in Erinnerung an meinen Bruder Hartmann

Ankunft in Ludwigsstadt/Bayern

Zu Fuß machten wir uns auf , um den Verlauf der Grenze und dann vor allem Deckungsmöglichkeiten beiderseits des Grenzstreifens zu erkunden. Nach Möglichkeit sollte auf beiden Seiten Wald möglichst weit bis an die Grenzzäune reichen. Im Streifen zwischen den Zäunen sollte, so unsere Überlegung, ein Bach verlaufen. Hartmann wollte dann darin gehen in der Annahme, daß dort eher keine Minen liegen würden.

Am zweiten Tag unserer Erkundungstour suchten wir, ebenfalls zu Fuß, an anderen Stellen der Grenze mögliche Routen ab.

Am Mittwoch wollten wie uns morgens wieder aufmachen, um eine passende Route zu finden. Heute abend sollte es gebackenes Huhn geben und keiner aus der Küche konnte die Hühner schlachten. Ob wir das übernehmen könnten, so die Frage. Im ersten Augenblick waren wir überrascht, sagten dann aber zu. Wir hatten zuhause unserem Vater öfter bei dieser Tätigkeit, dem Schlachten von Hühnern, zugesehen und auch geholfen. Die Köchin brachte uns zwei Hühner, zeigte uns im Hof Holzklotz und Axt, um dann wieder in der Küche zu verschwinden. Kopf des Huhnes auf den Holzklotz, den Hals mit der Axt durchtrennen, den Körper ausbluten lassen, indem man das Huhn an den Beinen packt und den Hals nach unten hält. Ich hielt das Huhn fest und Hartmann trennte mit der Axt den Kopf ab. So machten wir es mit beiden Hühnern und lieferten sie anschließend in der Küche ab.

Wir setzten dann den geplanten Tagesablauf fort. Am Abend aßen wir eines unserer geschlachteten Hühner als «gebackenes Huhn». Die Tochter des Hauses setzte sich zu uns. Sie hatte sich wohl über unsere «Wanderungen» an die Grenze so ihre Gedanken gemacht. Wir weihten sie ein. Ihr Angebot, uns bei der Suche zu helfen, nahmen wir gerne an. Natürlich kannte sie die Umgebung besser als wir. Mit dem Auto konnten wir nun auch in größerer Entfernung vom Gasthof nach einer guten Übergangsstelle suchen.

Am Donnerstag nach dem Frühstück fuhren wir mit dem Auto los, unsere Fremdenführerin am Steuer. Verschiedene Stellen an der Grenze klapperten wir ab, inspizierten das Gelände und Hartmann bewertete die Möglichkeit seines Vorhabens, in die DDR zu gelangen.

Eine Stelle gefiel Hartmann ganz besonders. Auf westlicher Seite war zwar kein hoher Wald, aber eine Fichtenschonung bot genügend Sichtschutz. Der Weg für die Anfahrt mit dem Auto führte direkt an die Grenze; vom Weg aus waren es nur noch 30 bis 40 Meter bis an den Zaun und den dahinter liegenden Todesstreifen. Von westlicher Seite floß ein Bach durch den Grenzstreifen entlang und verschwand in östlicher Richtung im Wald. So hatte es sich Hartmann vorgestellt. Diese Stelle wollte er nehmen und hoffte auf günstiges Wetter in den nächsten Tagen, um nachts diesen Grenzübertritt wagen zu können.

Vormittags sahen wir uns in der Stadt um. Der Stadtkern rund um den Marktplatz bestand aus historischen Gebäuden. Es sah alles ein wenig heruntergekommen aus. Gegen Mittag legten sich dünne Nebelschwaden über die Stadt. Sollten diese dichter werden, dann würde Hartmann das Wagnis eingehen; er war fest entschlossen seine Freundin in den Westen zu holen. Wir waren guter Dinge.

Gegen 17 Uhr, der Nebel war dichter geworden, packte Hartmann seinen Rucksack und machte sich fertig. Zu dritt machten wir uns auf den Weg. Ohne zu sprechen fuhren wir in die Nähe der ausgesuchten Stelle. Dicker Nebel verwischte Konturen der Bäume und ließ so die Umgebung nur erahnen. Gemeinsam gingen wir noch ein Stück in Richtung Grenzzaun. Hier verabschiedeten wir uns von einander und Hartmann verschwand im Nebel. Einige Zeit blieben wir noch stehen und lauschten, aber es war nichts zu hören. Auf dem Weg zurück zum Auto tauchte ein Militärfahrzeug, ein Jeep, auf. Um uns unangenehme Fragen zu ersparen , mimten wir ein Liebespaar und küßten uns. Beamte des Bundesgrenzschutzes hielten an, leuchteten mit Lampen auf uns und fuhren wieder weiter. Keine Schüsse oder Minenexplosionen waren zu hören, aber meine Anspannung ließ auch auf der Rückfahrt nicht nach. Bevor ich zu Bett ging trank ich ungewohnterweise einige Gläser Bier am Tresen. Hartmann schien es geschafft zu haben..

Am Samstag packte auch ich meine Sachen und fuhr mit der Bahn nach Landau zurück. Die Schule und das Leben im Schülerheim waren bald wieder Alltag.


Nach einigen Wochen erfuhr ich von meinen Eltern, daß Hartmann praktisch auf DDR-Seite erwartet worden war. Er kam in das berüchtigte Gefängnis in Bautzen wegen Republikflucht, die bezog sich auf seine erste Grenzerfahrung aus dem Osten in den Westen… Wegen guter Führung wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen und heiratete seine Freundin. Nochmals überquerte er, nun mit ihr als seiner Ehefrau, illegal die innerdeutsche Grenze in Bayern erfolgreich.

….aber das sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.

In Hamburg wohnte er mit Familie nun einige Jahre, auch ein Sohn wurde geboren. Die Ehe zerbrach und diesmal wollte Hartmann von Schleswig-Holstein aus zurück in die DDR, in seine Heimat. Er wurde wieder gefaßt und kam für ein Jahr in Ostberlin in Haft, wurde dann abgeschoben in die BRD; er war ja zwischenzeitlich Bundesbürger geworden… Diese Erfahrungen hatten, von Beginn an, schwere psychische Beeinträchtigungen mit körperlichen Folgen ausgelöst, an denen er bis an sein Lebensende litt. Er starb am 5. November 2008.


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