Am Berberitzenhang

Am Berberitzenhang

Das nüchterne Begräbnis meiner Mutter hatte ich an Fannis Seite in Salzburg überstanden. Die Kosten für den einfachen Sarg mußten von der Gemeinde, in der sie verstorben war, übernommen werden. Mit meiner Schwester hatte ich vorher nur telefoniert und sah sie am Grab der Mutter das erste Mal. Sie wirkte versteinert und sah mich nur flüchtig an. Ich ging auf sie zu und reichte meine Hand, die sie nicht ergriff. «Ich möchte dich gerne treffen um über sie, unsere Mutter, zu erfahren…», sagte ich zaudernd und stockend im Satz. Es war mir unangenehm. Christa verhielt sich abweisend. «Bitte», fügte ich hinzu. Fanni stand neben mir und ergriff das Wort. Die beiden gingen entlang der Gräberreihen, weg vom offenen Grab, und ließen mich warten. Ich sah hinunter in die Grube in dem ein verlöschtes Leben lag. Meine Gedanken kreisten um das, was ich von ihr wußte. War es ein gescheitertes Leben, war sie stark gewesen, war es erfüllt oder leer gewesen oder etwas von allem. Eine Antwort konnte ich nicht mehr erhalten und das schmerzte, tat weh. Fanni kam allein zurück.

Ich war wieder zurückgefahren in mein Tal und wollte, mußte, mich um die Umbauten in meiner «Keuschen» kümmern. Mein geplantes Gespräch mit der Geischler Sophie zögerte ich hinaus. Ich wußte nicht wie ich mit meinen letzten Erfahrungen umgehen und wie ich fragen sollte. Groll hatte sich in mir angesammelt. Es konnte nicht sein, daß sie, die Sophie, nichts über die Sache wußte; – die Sache von den beiden Brüdern, meinem Vater und meinem Onkel, der auch der Vater meiner Halbschwester war. Es fiel mir schwer mit Sophie über Alltäglichkeiten zu reden, wo doch so viele Fragen in mir auf Antworten warteten. Wie immer hatte ich bei ihr das Zimmer bezogen. An manchen Tagen verbrachte ich allerdings die Nacht auch in meinem eigenen Häuschen. Die Umbauarbeiten gingen voran, doch es fehlte noch Einiges, was heute selbstverständlich von Gästen erwartet wurden. Mit meiner Arbeit beim Baron war ich ausgelastet und bei gutem Frühlingswetter wurde ich als Wanderführerin auch manchmal in Anspruch genommen. Das zweite Gasthaus, «Zum Mölcher«, im Ort war gut besucht und der neue Pächter, ein Russe, schien seine Sache gut zu machen. Einige Zeit war das «Mölcher» sozusagen «wirtlos» gewesen und der Bürgermeister hatte darin zwei Wohnungen ausbauen lassen, die über die Gemeinde vergeben wurden. Igor war ein Glücksfall, über Personalmangel konnte er auch nicht klagen, da Familienangehörige mit anpackten. Ich wartete auf Sepp, Sophies Bruder, mit dem Hintergedanken, ihn über Vergangenes auszufragen. Es war mittags und auch einige Holzarbeiter kamen in die Wirtsstub’n. Es hatte sich kaum etwas verändert, nur ein ikonenartiges Marienbild neben dem Kruzifix fiel mir auf. Es überstrahlte das hölzerne Kreuz mit dem geschnitzten Christus. Hier im Tal gab es in einigen Dörfer kein Wirtshaus mehr und so war es verwunderlich, aber natürlich sehr schön, daß man hier gleich zwei hatte.

«Bist spät heut, – komm setz dich», begrüßte ich den Sepp und versuchte erst gar nicht ihm die Hand zu geben. Schwerfällig nahm er auf dem einzigen Stuhl Platz, der am Tisch stand. Ich saß auf der Bank. «-war wieder viel Arbeit heut, sakra, mein Schneuztüchel ist schon wieder net do», meinte er vorwurfsvoll. «Hast’s halt verloren, wird nit so schlimm sein», erwiderte ich. «Doch -«, damit beendeten wir unser Gespräch vorerst. Igors Küche beschränkte sich auf zwei Menüs täglich, die allerdings gerne bestellt wurden. Er sträubte sich auch nicht mehr gegen die Bezeichnung Russe, obwohl seine Familie in seiner früheren Heimat keine Russen waren, sondern als Wolgadeutsche beschimpft wurden. Hier war er nun nur der Russe. Die Hausmannskost, oft mit seiner speziellen Note, wurde frisch gekocht, und wie ich sehen konnte, von den Holzarbeitern geradewegs «hineingeschaufelt», – sogar das dabei übliche Reden verstummte. Auch wir aßen wortlos und ich hing meinen Gedanken nach, als mich Sepps saures Aufstoßen sozusagen aufweckte. Auch der ausgestopfte Fuchs, der nahe der Fensterlaibung saß, schien erschrocken.

«Was weißt› vom Bruder meines Vaters…?», fragte ich den Sepp. Er sah mich erschrocken an. «Bruder, jaja, der Bruder», dabei kaute er noch so vor sich hin, obwohl sein Mund schon leer war, wie mir schien. «Wieso willst was wissen», meinte er fragend und führte seine Gabel den Tellerrand entlang. «Ein Nazi war er halt, aber in Ordnung, – haben s g’sogt, die Leit. A bißl eingebildet war er halt in seiner Uniform, – deiner Mutter hat’s gfalln. Die war ja scharf auf Uniformen, dei Muatter. Muaßt mei Schwester frogn, die weiß do mehr als ich.» Damit war dieses Gespräch zu Ende. Sepp machte sich auf, um mit den Holzarbeitern noch Stämme aus dem steilen Hang, weiter hinten im Tal, ins Sägewerk zu transportieren, so sagte er. Die Bäume aus dem Schutzwald sollten nun wohl auch daran glauben. Ich machte mich auf zu Sophie und nahm mir vor, heute, das nun schon lange verschobene Gespräch zu führen.

Eigentlich hatte ich mir meine Gesprächsstrategie mehrfach zurechtgelegt, doch ich konnte sie nicht umsetzen. «Was weißt du vom Bruder meines Vaters?», fiel ich sozusagen mit der Tür ins Haus und schien Sophie in Bedrängnis zu bringen. Weder von ihr noch von Mathilde war dieser Bruder jemals erwähnt worden. Sie schien verlegen. «Wir wollten dich, – also die Mathilde und ich, damit verschonen», antwortete sie. «Verschonen, verschonen… «, brach es aus mir und ich ließ meine Entäuschung, meinem Groll in harte Worte fließen. «Ich habe eine Halbschwester, und deren Vater ist mein Onkel, der Bruder…, verschonen vor, ja wovor eigentlich, sag’s mir», forderte ich Sophie auf. «Man hat nicht darüber reden wollen», erwiderte sie leise, «aber sie wußten schon Bescheid, Mathilde und natürlich dein Vater. Eigentlich wollt› deine Mutter, wenn schon heiraten, den Bruder, aber ihr Vater machte da nicht mit, und die Stiefmutter war auch dagegen. Wahrscheinlich war das der Anfang vom Unglück, – unglücklich in der Ehe, aber was war das schon damals. Irgendwann ist sie ausgebrochen und danach hat niemand mehr d’rüber g’sprochn, als wär sie tot. Ihre Fehler sollten keine Last für dich werden. Der Bruder, also dein Onkel, wurde auch gemieden; anfangs jedenfalls. Er machte schnell Karriere bei den Nazis und war dann später irgendwann gern gesehen…, von einer Schwester weiß ich nichts», fuhr sie ungläubig fort. Ich berichtete, nun etwas ruhiger, weitere Einzelheiten, die ich mit Hilfe von Fanni recheriert hatte. Wir verfielen in angespanntes Schweigen, was ich durch meinen Aufbruch beendete. Heute Nacht wollte ich in meinem Häuschen übernachten und die wirren Gedanken sammeln und irgendwie einordnen. «Kommst morgen zum Frühstück?», wandte sich Sophie noch an mich, als wir uns an der Haustür verabschiedeten. «Ja, und gute Nacht», war meine Antwort bevor ich ging.

Kühl war es am Morgen, als ich mich auf den Weg zu Sophie machte. Nebel waberte unten im Tal, doch wieder einmal ging sie auf; lange hatte ich nicht mehr so bewußt einen Sonnenaufgang erlebt. Dunstschichten durchdringend, glänzend einen Schleier zerreißend, trocknete sie den Tau auf dem schmalen Pfad, den ich über die Wiese nahm. Die Tür stand offen und ich hörte sie in der Küche hantieren. «Guten Morgen», rief ich hinein. Sie öffnete die Tür weiter und ich sah, wie sie mit ihrer Hand über das straff gekämmte Haar strich, das als Knoten unter einem Netz steckte. «Danke», sagte ich und berührte ihre Schulter mit leichtem Druck. «Aber geh, is gut- «, kam es leise von ihr. Sie legte noch einige Scheite Holz in den Herd auf die noch immer glosenden Rückstände von gestern Abend. «In der Früh is› mir immer kalt», bemerkte sie. Ich nickte und nahm ihr Butter, Honig und Brot ab, um es auf den Tisch zu stellen. Ein Fenster war ein klein wenig geöffnet und die Tischdecke war erneuert worden. Wir setzten uns und ich löffelte den hellen zähfließenden Honig auf mein Butterbrot. «Lebt der alte Schützelhofer noch?», fragte ich. «Ist auch schon gestorben, vor einigen Monaten. Er hat’s nimmer daschnauft», dabei goß sie mir Kaffee in das Steinguthaferl. Die Milch im Schnabelkrug dampfte noch. Ich mochte die Haut, die sie mir mit der Milch in die Tasse goß, nicht. Sie wußte das. «Magst si nicht?», fragte sie scheinheilig.

«Is so g’sund», fuhr sie fort, » nimm’s halt ich.» Mit ihrem Silberlöffel, auf dem der Namenszug Ferdinand eingraviert war, fischte sie nach der Haut in meiner Tasse. Es war die Tasse mit den Ostermotiven, aus der ich heute trank. Ein pausbäckiges Kind suchte Ostereier. An vielen Stellen war die Glasur abgesprungen, auch der Henkel schien brüchig und fühlte sich rauh an. «Seit der alte Schützelhofer nimmer is macht die Walli die Bienenstöck. Es is a Kreuz! Die jungen Schützelhofer sind ja auch schon so an die Sechzig und abgerackert. Die ganz Jungen sind fort und auch nichts Rechtes«, redete sie vor sich hin, ohne meine Meinung dazu hören zu wollen. Zornig schnitt sie noch ein Stück Brot vom dunklen Laib und hielt es mir über den Teller. «-willst noch?«, fragte sie, » mittags gibt’s Gerschtl».

Eigentlich wollte ich Büroarbeiten erledigen. Der Baron war zurzeit in Wien, um Geschäftliches zu erledigen. So waren die Räumlichkeiten im Gutshof gähnend leer. Es war Anfang April und die Saison hatte noch nicht begonnen. So machte ich mich über den Stoß von Briefen her und öffnete mit dem scharfkantigen Brieföffner die Couverts. Erfreut sah ich Post für mich , – von Fanni. Ich ließ meine Briefe einfachheitshalber hierher schicken. Im Brief steckte ein Umschlag mit Trauerrand, es war die Todesanzeige meiner Schwester. Fanni hatte nur einige Worte beigefügt,

Meine Liebe, leider ist Deine Schwester nicht mehr, sie hat sich das Leben genommen. Wäre gut, wenn du kommen könntest,- bist gerne bei mir gesehen und wirst erwartet. Bin mit Gedanken bei Dir, Fanni

Fannis Notiz
Lawinenschnee vom letzten Jahr

Schmerz legte sich über meine Gedanken. Ich verließ den Gutshof und machte mich auf den Weg hinauf an den sonnigen Berberitzenhang. Die Lawine des letzten Winters hatte an Größe eingebüßt und den Weg freigemacht. Schneereste waren geschmolzen und liefen in Rinnsalen den Hang abwärts. Oben setzte ich mich auf einen der flachen, versprengten Felsreste und versuchte zu verstehen, als Feuchtigkeit über meine Wange lief. Ich wunderte mich, denn seit langer Zeit waren meine Tränen trocken gewesen. Föhn schob die Karawanken näher und Pfiffe der Murmeltiere hallten herüber zu mir.


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