Kein zurück

Kein zurück

Manche Tage möchte man aus seinem Leben streichen, in diesem Fall ich, diesen aus meinem. Fanny deckte ruhig und entspannt den Tisch, strich über die Leinendecke mit dem Kreuzstichmuster in dunklem Blau und rückte nochmals Tassen und Teller zurecht. Ich aber war angespannt. «Mach› dich nicht verrückt», vernahm ich ihre Stimme, «sie wird dich auch kennenlernen wollen.» Sie, das war Christas Lebensgefährtin, die ich nur kurz am Grab meiner Halbschwester gesehen hatte. «Glaubst du, das – meinst du wirklich», meinte ich fragend. Die alte Hausklingel schellte. Tiger sprang erschrocken von der Ofenbank und lief, an mir vorbei, durch den offenen Türspalt in das Zimmer nebenan.


Fanni zog das Gespräch an sich, und ich konnte daher meine Anspannung etwas ablegen. Svetlana schien es ebenso zu gehen. «Ich mache noch Kaffee, oder möchtet ihr lieber Wein aus Niederösterreich», fragte unsere Gastgeberin. Ich nickte und auch die Lebensgefährtin meiner Halbschwester stimmte zu. «Ja, Wein? – gut», meinte Fanni und machte sich in der Speisekammer zu schaffen. Wir sahen einander an, Svetlana und ich. Tiger kam auch wieder in den Raum und legte sich auf seinen Stammplatz am warmen Kachelofen. Diese Katze, und dann auch Tiere, im allgemeinen, waren nun unser Gesprächsanker. «Christa mochte Menschen nicht so sehr, aber zu Tieren hatte sie immer eine gute und oft auch enge Beziehung», sagte Svetlana, senkte den Kopf und umfaßte mit ihren Händen die Tischkannte. Kleine, zarte Hände, die schmucklos wirkten, obwohl ein goldener Siegelring an der linken Hand steckte. Tiger hatte sich an meine Seite gelegt und sein beginnendes Schnurren beruhigte mich. «Sie war enttäuscht gewesen», fuhr Svetlana fort, » und mit ihrer Herkunft kam sie nie zurecht. Es waren nur wenige Zeiten, in denen sie positiver, vielleicht auch unbeschwerter, ihr Leben empfinden konnte. Die Last ihrer Zeugung konnte auch ich ihr nicht abnehmen, zu ungeheuerlich drückte das Geschehen auf ihre Seele. Sie versuchte zu verdrängen, aber es gelang nicht. Bei den geliebten Tieren, – wir hatten eine kleine Gruppe bei einer befreundeten Bauernfamilie eingestellt, – da war sie manchmal, wie soll ich sagen, fast glücklich in ihrer so genannten Arche».

Immer wieder versanken wir in Sprachlosigkeit, auch Fanni. Svetlana berichtete stockend und ich merkte, wie sie nach Worten suchte. Wir ließen einander Zeit. «Sie war überzeugt ein Vergewaltigungskind gewesen zu sein und haßte ihren Vater dafür. Er hatte das wohl immer bestritten, aber irgendwann waren diese verletzten Bande zerrissen und kein Kontakt mehr möglich. Ich habe ihn nie getroffen und kann nur von seltenen Gesprächen dazu berichten. Christa wollte und konnte auch nicht dieses, ihr Lebensthema, aufarbeiten.; wie auch…», vernahm ich Svetlanas Stimme. Weit entfernt erschienen mir diese Worte, dann berichtete ich von meinen Schlußfolgerungen aus den Gesprächen mit der Geischler Sophie. «Nein, das heißt ich glaube, Christas Vater hatte die Wahrheit gesprochen. Es gab früher vielleicht sogar einmal Liebe und Zuneigung zwischen den beiden, doch die Mutter mußte, ja sie mußte, den Bruder ehelichen. Vielleicht hat er sie im Arbeitslager wieder…». Fanni unterbrach mich,» nein, die beiden mußten schon vorher Kontakt miteinander gehabt haben. Ich dachte, damals, – du weißt – , in Wien, eigentlich hätte deine Mutter nach den Vorfällen ins KZ gemußt. Da hatte eine schützende Hand eingegriffen, daß sie ins Arbeitslager kam. Ich hab› mich gewundert. War er bei der SS?», dabei beugte sie sich zu Svetlana vor und stieß mit den Ellbogen an die noch immer auf dem Tisch stehende Kaffeekanne. Fannis Frage blieb unbeantwortet. Svetlana zuckte mit den Schultern und griff nach dem Weinglas. «Was immer er war und was er getan hatte, als sicherlich strammer Nazi, wir werden es wahrscheinlich nie mehr erfahren. Die Sache, ich meine diese späte Begegnung mit meiner Mutter«, folgerte ich,» war eine glücklose, aber keine Vergewaltigung. Da bin ich fest davon überzeugt.»

Die Sonne wurde schon schwächer und doch ließ sie die Schneereste im Garten noch glitzern. Svetlana verabschiedete sich. Ich wollte sie ein Stück begleiten. «Ich habe noch eine kleine Mappe von deiner Schwester dabei, – eigentlich – , wußte nicht ob ich sie dir geben sollte», vernahm ich ihre Stimme aus dem Flur, «aber stöbere darin und gib› sie mir irgendwann zurück, ja? Christa nannte mich Svea,» dann fügte sie noch hinzu, «damit du nicht irritiert bist, wenn du diesen Namen liest. Wir haben einander in Riga kennengelernt auf einem Symposium.» Svetlanas, – Sveas Gesicht versteinerte, nur die Mundwinkel zuckten. Sie verwischte an ihren Schuhen nicht existierende Schmutzreste und blickte zu Boden. «Gerne werde ich mich damit beschäftigen und lesen, was der Inhalt an Geheimnissen preisgibt», sagte ich leise im Hinblick auf die Mappe, die nun auf der Truhe neben der Haustüre lag. Fanni war in der Küche beschäftigt, sie kam kurz, wischte ihre nassen Hände in ein mitgebrachtes Geschirrtuch. «Svetlana, du kannst immer hierher kommen und gute Heimfahrt», dabei umarmten die beiden einander. Als sich die Haustüre öffnete wischte Tiger hinaus. Er mußte wieder einmal sein Revier verteidigen.

Auf unserem Weg zur Bushaltestelle waren wir beide ziemlich einsilbig, doch unser Abschied war herzlich. Ich hatte sie in mein Tal eingeladen. «Wäre schön, wenn du einmal kommen könntest», sagte ich zum Abschied. «Ja, das werde ich wohl einmal machen», erwiderte sie und drückte nochmals meine Hand. Ich machte einen kleinen Umweg am Fluß entlang und sortierte meine Gedanken. Der Lebensirrtum meiner Schwester, so meine Überzeugung, hatte ihre Seele vergiftet. Der Suizid war an diesem Nachmittag nur wortlos anwesend gewesen. Keine Erklärung von Seiten Sveas hatte mir meine unausgesprochenen Fragen beantwortet. Diese tragische Bürde sollten wir beide, oder mußten wir, ungewollt tragen.

Abends öffnete ich die schmale Mappe, um unvoreingenommen den Inhalt auf den Tisch zu legen. Fanni hörte ich in der Küche rumoren und Tiger hatte sich wieder an meine Seite gelegt. Ich sah Briefe, Karten, Zeitungsausschnitte und versuchte darin gedanklich zu lesen, warum Christa das alles gesammelt hatte. In einigen der Briefe stieß ich auf tiefe Sinnfragen, die diese Korrespondenz geprägt hatten. «Willst noch eine Tasse Tee», hörte ich Fannis fragende Stimme aus der Küche. Als ich nicht sogleich antwortete kam sie zu mir, um ihren Arm um meine Schulter zu legen. «Traurig, so ein Leben», meinte sie und, «willst noch Tee?» Ich nickte und sie machte sich wieder auf in die Küche auf. Tiger folgte mit erhobenem Schwanz, vermutlich um seine Abendsration an Futter abzuholen. Ich sah den beiden nach und mußte lächeln. Als ich die Schriftstücke wieder in die Mappe stecken wollte spürte ich in einem Extrafach noch ein Karte. Es war das Foto eines Soldaten mit Widmung auf der Rückseite. Und diese Zeilen waren an meine Mutter gerichtet. Der Bruder meines Vaters wirkte auf dem Foto nachdenklich. Was mochte mit ihm in jenen wirren Zeiten geschehen sein und wie war sein Leben danach?