Mathilde
Auf der Suche nach dem Gestern
Meinen Besuch nutzte ich auch, um in die Berge zu gehen, nicht nur auf die Kräuterwiesen mit Tante Mathilde. Sie versuchte mich auch nicht davon abzuhalten, zumal genügend Zeit blieb mir ihre Geschichten zu erzählen. Auch bei der Geischler Sophie erwartete mich so manche Von-Hören-Sagen-Erzählung, die ich aufschreiben wollte.
Mathildes Geburtstag verlief ruhig. Nur die Geischler Sophie kam vorbei und brachte einen Reindling, aus Germteig gebacken, so wie es hier üblich war. Sie verlangte Kaffee. Die Tante fügte sich und füllte die Teetassen damit. Das Gespräch uferte aus, und ich konnte den Erzählungen nicht folgen. Als sich Sophie auf den Weg nach Hause machte war ich eigentlich mehr als erleichtert. Die Tante kramte im Stoß der alten Zeitschriften und holte eine aus dem Stapel hervor. «Lies nur», sagte ich, dabei ergriff ich ihren Arm, «ich setz› mich ans Fenster.» Sie sah mich mißtrauisch von der Seite an und meinte fragend, «macht’s dir auch wirklich nichts aus?» Ich schüttelte den Kopf. Wir saßen im Lichtkreis der pergamentbespannten Lampe, an deren Querverstrebungen kleine Blumengebinde hingen. Winzige Strohblumenblüten, die zusammengefaßt waren mit ausgebleichten Bändern. Ich konnte mir die Hände nicht vorstellen, die solches zustande gebracht hatten. Den hölzernen Stuhl mit der geschnitzten Rückenlehne rückte ich in den dämmrigeren Teil des Raumes und sah hinaus in die kommende Dunkelheit. Die Wolken schoben sich vor die Sterne und auch der Mond war kaum zu sehen. Die hellen Vorhänge waren von gestickten Bordüren, in einem roten Kreuzstichmuster, eingefaßt. Mathilde saß über den Bildern der Illustrierten und wiegte den Kopf mißbilligend oder auch zuweilen anerkennend. Im Herrgottswinkel hing das Kreuz, ein einfaches und schlichtes aus Holz. Sie war nie eine jener bigotten Kirchgängerinnen gewesen, die ihre Religiosität nach außen stülpten, um sich eitel damit zu schmücken. Für sie zählte nur die Innerlichkeit, das Vertrauen zu ihrem Gott. Den Kirchgang hatte sie abgelehnt, obwohl es zu den auferlegten Pflichten gehörte. Sie galt als eine Ketzerin unter den Protestanten in den Kreisen ihrer Familie. Ich sah sie an. Sie war alt geworden. Die Pigmentflecken hatten sich vermehrt, wie übersät wirkte ihr Gesicht mit dunklen und auch erhabenen Stellen, die auch die Augenlider nicht ausgespart hatten. Ich mußte an Sophies Neffen denken, der in meiner Kinderzeit so gerne die vielen Sommersprossen in meinem Gesicht gezählt hatte. Wenn wir damals hinter dem Haus der Geischler Sophie im Gras lagen, kitzelte er mich mit einem Grashalm in der Nase und freute sich über mein Gekicher und Geschrei, es doch zu lassen. Er schnitzte Pfeifferln aus dem Holz der Haselnuß, was mich dann wieder versöhnte, während ich einen Kranz aus Margariten flocht. Ich dachte an die verscheuchten Hühner und an das gestohlene Rad des Pfarrers. Lois, Sophies Mann, brachte die Sache mit dem Fahrrad wieder in Ordnung. Eine der gejagten Hennen war tot und wanderte in den Suppentopf des Geistlichen, sozusagen als «Leihgebühr» für das Fahrrad. Ich konnte mich noch an den weichen, filzbelegten und bunt bezogenen Fahrradsattel erinnern. In der Sonntagspredigt war dann von «Mein» und «Dein» die Rede gewesen. Die Tante blätterte laut raschelnd um und weckte mich so aus meinen Gedanken. Offenbar war sie mit dem Geschriebenen nicht einverstanden. Ihr Mund wurde ganz spitz, so als wollte sie pfeifen, aber es kam kein Ton. Dann verklärte sich ihre Miene, es schien wieder alles ins rechte Maß gerückt zu sein. Ich stand auf, «ich geh› schlafen, gute Nacht!», sagte ich und drückte ihr liebevoll einen Kuß auf die Wange. Sie murmelte vor sich hin, ganz gefangen von einer Adelsgeschichte, die sie mit Vorliebe las, da sie diese fast nahtlos an ihre Vergangenheit fügen konnte. Ich stand vor dem Haus und hoffte auf schönes Wetter.