Auf der anderen Seite des Tales
Als mich die Nachricht von Mathildes Tod erreichte, versuchte ich, wenn auch verspätet, zu kommen. Das Begräbnis mußte schon vor Monaten erfolgt sein. Mein unstetes Leben hatte eine Benachrichtigung nicht ermöglicht. Ich machte mich also auf zur Geischler Sophie, um die näheren Umstände zu erfahren. Es sollte eine schmerzhafte Begegnung mit der Vergangenheit werden, die ich immer wieder ausgeblendet hatte, so verletzbar war ich geworden.
Dieses Mal war ich mit der Bahn gekommen. Der Sepp wartete schon auf mich vor dem kleinen Bahnhof, der eigentlich nur mehr eine Haltestelle war. Teile der Gleise waren überwuchert von Gestrüpp und schienen wohl schon lange nicht mehr befahren worden zu sein. Sophies Bruder, der Sepp, hatte niemals viel mit seinen Mitmenschen vor. Freute er sich, so stand das in seinem Gesicht geschrieben. Das war alles. «Es ist mir nicht recht, daß du in der Stub’n schlafen mußt, wegen mir», sagte ich, noch bevor ich ihn begrüßte. Er kaute verdrossen an einem Scherzl Brot, das hart und alt war. «Ich kann mir auch im Dorf eine Schlafgelegenheit suchen, wenn’s du willst», fügte ich hinzu, doch er sagte nichts noch immer kauend. Ich griff an seine Schulter, die sich unter dem zu engen Hemd wölbte. «Sag›, ist’s dir recht ? Sag…». «Is recht», brummte er, «hast ja immer bei der Sophie g’schlafen, wenn’st zu Besuch warst. Ich schlaf› im Dorf, in mein› Zimmer, nicht in der Stub’n.» Das war nun klar und wir machten uns auf den Weg. Sein Haar war licht geworden und seine Schritte schon beschwerlicher als früher. Er wandte mir sein Gesicht zu. Die Haut mit den großen Poren sah nicht gesund aus, trotz der vielen frischen Luft im Wald. Er hatte also noch immer im Gutsgebäude ein Zimmer, das sozusagen als Ausweichquartier herhalten mußte, wenn er mit seiner Schwester Sophie überkreuz lag. Als er noch ständig in der Forstverwaltung, beim Baron, gearbeitet hatte, gehörten auch die Stallungen neben dem Forst zu seinem Aufgabengebiet. Jetzt machte er nur noch zeitweise Hilfsdienste, doch das Zimmer stand ihm weiter zur Verfügung. Diese Hilfsdienste weiteten sich mitunter aus, besonders wenn Holz geschlägert wurde. Mit der Sophie war ein gutes Auskommen, aber der Sepp wollte meist lieber unter Seinesgleichen sein. Dann saß er in der Wirtschaft, trank ein paar Gläser und hörte zu, was so erzählt wurde. Selten beteiligte er sich an den Gesprächen. Wir waren oben angekommen bei der Geischler Sophie, vorbei am verlassenen Haus Mathildes. Ein trauriges Wiedersehen. Die Sophie stand in der Küche. «Wie die Zeit vergeht», meinte sie und drehte sich zu mir. Ich umarmte sie. Etwas steif wendete sie sich wieder ab, so als wäre das ein Zuviel an Gefühl. «Über’n Notar hab› ich dich dann ausfindig g’macht in Asien», ein leichter Vorwurf lag in ihrer Stimme. «Tut mir leid», erwiderte ich und setzte mich unaufgefordert an den Tisch. Sepp zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ebenfalls. Sophie stellte Brot und Schmalz auf den Tisch. «Du willst sicher was ander’s», meinte sie beiläufig und holte Butter und Marmelade. Sepp schnitzte Kerben in seine Brotscheiben und schmierte sie dann bedächtig. «Milch oder Tee», hörte ich Sophie fragen. «Tee, wenn’s dir nichts ausmacht», antwortete ich. Unsere Gespräche waren nur bruchstückhaft, als würden sich hinter den Brüchen Geheimnisse verbergen. «Ich hab› einen ganzen Koffer für dich von der Mathilde», erwähnte sie so nebenbei und weiter, «es ging ja ganz schnell mit ihr. Im Winter war sie wie immer im Dorf unten einquartiert. Der Bürgermeister hat da zwei kleine Wohnungen ausbauen lassen, für Personal. Im früheren Gasthaus, weißt schon. Sonst war sie ja oft direkt bei der Feuerwehr untergebracht. Im Winter ging’s hier oben ja gar nicht. Gelebt hat sie wie früher, ganz früher. Vielleicht wollte sie büßen.» Sie verstummte und auch auf meine weiteren Fragen erhielt ich keine Antwort. «Ich geh› jetzt», sagte der Sepp und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. «Macht’s dir auch wirklich nichts aus…», nochmals wollte ich seine Antwort hören. Er grinste verhalten, «ist schon in Ordnung, gute Nacht, bis morgen!» Damit verließ er uns. Sophie machte sich noch in der Küche zu schaffen. Heute war sicherlich kein guter Zeitpunkt, um über Mathilde zu reden, morgen vielleicht. «Oben ist alles gerichtet, kennst dich ja aus hier», vernahm ich sie hinter mir. «Ein Herzinfarkt war’s, ganz plötzlich», fügte sie hinzu, um mir dann noch eine gute Nacht zu wünschen. Ich vermied es, meine Gefühle zu zeigen. So schwiegen wir beide und ließen Vergangenes erst einmal ruhen.
Der Koffer stand vor dem Fenster. Ein altes, braunes Ungetüm mit abgewetzten Ecken und vielen striemenartigen Streifen, die von früheren Reisen Zeugnis ablegten. Ein Ledergurt umspannte die Mitte und die Klappschlösser hatten Rost angesetzt. Morgen wollte ich ihn öffnen. Ich benutzte noch Sophies Bad und versank dann in der Aussteuerbettwäsche, die wie immer, wenn ich zu Besuch war, das Bettzeug schützte. Mit Gedanken an den möglichen Kofferinhalt schlief ich ein.
Frühmorgens, das Krähen des Hahnes in der Nachbarschaft war schon verklungen, hörte ich die Sophie schon in der Küche herumwerken. So war sie, kein Abweichen von ihren Tagesverpflichtungen kam ihr in den Sinn. Die Arbeit war in den letzten Jahren weniger geworden, aber gut, auch beschwerlicher. Bevor ich mich in die Küche wagte, stand ich noch einige Zeit vor dem Haus und atmete die kühle Luft. «Na, komm schon», hörte ich die Sophie rufen, dabei sah sie aus dem offenen Küchenfenster. «Hast gut geschlafen in meiner Bettwäsch› «, fragte sie. Das schien ihr wichtig zu sein, der Schlaf in ihrer Bettwäsche. «Ja, gut, alles gut», antwortete ich schmunzelnd. «Der Sepp wollt› auch kommen, ist wieder einmal unzuverläßig. In letzter Zeit kommt das öfter vor. Besoffen haben ihn die Gendarmen vor ein paar Wochen hinten beim Tümpel fast aus dem Wasser ziehen müssen, den Depp. – Hab› ich alles auf ’n Tisch was du magst?», fragte sie und setzte sich sogleich. Wie sollte ich mein Gespräch beginnen, wo anfangen. Der Koffer stand noch verschlossen im Zimmer, doch was konnte mir die Sophie schon vorher darüber erzählen? Irgendwie hatte ich Angst vor dem unbekannten Inhalt. «Du solltest zum Notar gehen, der hat noch einiges mit dir zu besprechen. Erben hat das Gericht bisher keine weiteren gefunden, nur dich», erklärte sie mit vollem Mund. «Wie?», mehr konnte ich nicht aus mir herausquetschen. «Als Nichte wirst› erben, wenn sie keinen anderen vom Stamm finden. Schau’nicht so erschrocken, tut nicht weh», dabei kicherte sie in sich hinein, «Die Mathilde hätte das auch so gewollt. Immer hat sie vom Madele erzählt, weißt schon.» Nun gab es für mich nicht nur einen Koffer, sondern auch noch ein Erbe, wie kurios. Ich fühlte mich überfordert und wußte nicht wie ich mit diesen Fakten umgehen sollte. «Und was ist mit dem Koffer?», fragte ich. «Der Koffer ist von deiner Mutter. Auch die Mathilde wußte nicht was drin› is, so hat sie g’sagt. Mach› ihn auf, dann bist› schlauer», meinte sie pragmatisch.
So öffnete ich am späten Nachmittag die beiden Schlösser. Der Kofferinhalt bestand aus vielen Papieren und Dokumenten, gebündelten Briefen, Bettwäsche aus weißen Leinen, die mich an die Aussteuer von Sophie erinnerten; etwas Geschirr, Besteck und Tischwäsche, Ansichtskarten und Fotos, gestrickte Puppen und gehäckelte Deckchen und ein Hut, der auf mich sehr altmodisch wirkte.
Wie in aller Welt sollte ich mich in diesem Sammelsurium zurechtfinden. Einige Schulhefte waren gebündelt und, wie ich feststellte, eng beschrieben. Ich war mir sicher, daß die Sophie mehr wußte über die Vergangehit meiner Mutter, ich mußte sie nur dazu bringen, mir darüber zu berichten. Der Sepp war auch endlich gekommen, ich hörte seine Stimme und war erleichtert, den Koffer wieder schließen zu können. Als ich in die Küche kam, saßen die beiden schon, Sepp wie immer auf einem Stuhl und Sophie auf der Bank. «Gut daß’d da bist», meinte sie. Wie auch Mathilde früher, konnte die Sophie meine Blicke deuten. Sie schien mehr über meine verborgenen Gedanken zu wissen, als mir selbst bewußt war. «Na red› halt, willst doch noch was wissen wie’s so war, früher mit deiner Mutter», dabei zog sie mich zu sich auf die Holzbank. «Es is nit alles schön, was war», fuhr sie fort. Sepp nickte zustimmend. «Es war halt a Kreuz, g’rad an Windischen hat sie sich ausg’sucht, dei Mutter. Sowas war Siebenunddreißig gar nit möglich g’wesn, damals. Die Leut hob’n schlimm über sie g’red und sie verteufelt, die Mathilde auch. Es war halt so, – als es dann aus war, konnt› sie ja nimmer z’ruck, dei Mutter. Er ist dann zu die Partisanen überg’laufn, angeblich, und sie war g’storben, so is es g’sagt wordn», Sophie unterbrach sich und holte Luft. Es war ungewohnt für sie so lange zu reden, in ihrem ausgeprägten mundartlichen Kauderwelsch, aber auch anstrengend zuzuhören. Sepp saß still und hielt die Hände gefaltet vor sich, den Kopf leicht gesenkt, «ja schlimm war’s», sagte er leise. «Und seit wann ist sie tot?», kam es gepreßt aus mir heraus. Die Beiden sahen einander an und es dauerte eine ganze Weile bis Sophie sich wieder gefaßt hatte. «Du bist dann doch erst zur Verwandtschaft und später ins Internat gekommen, der Vater war ja auch nicht greifbar damals mit seinem eingeklemmten Bruch, weißt schon. Die Mathilde hat alles für dich bezahlt. Ihre Schwester war ihr aber gestorben. Die Leut› hier haben das halt auch so erzählt und dich hat man ebenso in dem Glauben gelassen, Madele», seufze sie, ein wenig betroffen und traurig. «Ich weiß aber, daß sie lange in Graz in der Irrenanstalt war, und die Mathilde wußt› das auch. Aber eigentlich wollt› das aber hier keiner wissen, besser tot. Stimmt’s Sepp?», dabei wandte sie sich an ihren wortkargen Bruder. «Ja», brummte dieser und damit war sein Beitrag schon zu Ende. «Dem Notar sein Sohn, der damals Student der Medizin in Graz war, erkannte deine Mutter, als er dort famulierte, ich glaub› so heißt’s. Der Notar weiß sicher mehr. Irgendwann ist sie dann ja wirklich gestorben. Vielleicht findest noch irgendwo ein Grab, aber ich mein› nicht. Im Krieg hat sich ja vieles verlaufen«, dabei verhaspelte sie sich und mußte ausgiebig husten. Ich war betroffen und fühlte keinen Boden mehr unter den Füßen. «Ich geh› noch raus an die Luft», sagte ich. Beide nickten verständnisvoll, als ich nach meiner Jacke griff und hinausging. Das kurze Stück Weg zu Mathildes Haus wirkte heute länger als sonst. Am Schuppen lehnte ein altes Fahrrad, worüber ich mich wunderte. Wer sollte es hier abgestellt haben? Ich setzte mich vor’s Haus und wollte nachdenken, aber das eben Erfahrene spielte Karussell in meinem Kopf und ich konnte zu keiner Klarheit finden. Ich hoffte auf die Schulhefte im Koffer, vielleicht gaben die Antworten auf meine Fragen.